Institutioneller Rassismus in Kindertageseinrichtungen
Frühpädagogische Bildungseinrichtungen wie Kindertageseinrichtungen (Kitas) fördern Bildungsgerechtigkeit – so die ideale Erwartung. Aber dieses Versprechen gilt nicht für alle Kinder. Das Projekt untersucht, wie institutioneller Rassismus in Kitas entsteht und verhandelt wird. Die Auswirkungen von Rassismus auf die Zugangs- und Teilhabemöglichkeiten von Kindern und ihren Familien stehen im Fokus. Das Projekt fragt dabei zum Beispiel, inwiefern sich Rassismus auf die Vergabe von Kita-Plätzen auswirkt.
Leitende Forschungsfragen
- Wie schreibt sich Rassismus in Kitas ein?
- Inwiefern reguliert institutioneller Rassismus den Zugang zu und die Bildungsteilhabe in Kitas?
- Wie wirkt sich der Umgang mit Vielfalt in Kitas auf die Zugänglichkeit und Bildungspartizipation aus?
„Kinder und Familien sind in Kitas immer wieder mit Rassismus konfrontiert. Darüber, welche Folgen das hat, wissen wir zu wenig. Mit unserer Forschung wollen wir eine Grundlage für wirksame Gegenstrategien schaffen.“
Projektbeschreibung
Der Besuch einer Kita kann Bildungsbiografien langfristig fördern. Dabei spielt die Qualität der frühkindlichen Bildung eine wichtige Rolle. Aber der Zugang zu Kitas und die Bildungsteilhabe sind in Deutschland ungleich verteilt.
Nur 22% der Kinder unter drei Jahren mit statistischem Migrationshintergrund besuchen eine frühkindliche Bildungseinrichtung – bei den Kindern ohne Migrationshintergrund sind es 43% (Statistisches Bundesamt 2022). Obwohl sich alle Familien mehrheitlich einen Kita-Platz wünschen, erhalten Kinder, denen ein Migrationshintergrund zugeschrieben wird, deutlich seltener Zugang zu frühkindlichen Bildungsangeboten (Spieß et al. 2023; Lokhande 2023). Hier lässt sich fragen, ob institutionelle Ausschlussmechanismen den Zugang zu frühkindlicher Bildung in Deutschland regulieren.
Darüber hinaus beschäftigt uns die Frage nach der Bildungspartizipation. Aktuelle Studien zeigen, dass nicht alle Kinder gleichermaßen von frühkindlicher Bildung profitieren (Cornelissen et.al 2018). Aus der NUBBEK-Studie geht hervor, dass Bildungsangebote in der Kindertagesbetreuung familiäre Effekte nur unzureichend ausgleichen (Tietze et al. 2013) oder sogar verstärken könnten (Baader et al. 2011, S.65). Der Bildungsweg von Kindern ist in Deutschland weiterhin stark herkunftsabhängig (Autor:innengruppe Bildungsberichterstattung 2024). Entsprechend haben Kinder aus privilegierten sozialen Schichten, unabhängig davon, ob sie eine vorschulische Betreuung oder Bildung genossen haben, eine wesentlich höhere Chance, ein Gymnasium zu besuchen, als sogenannte Arbeiterkinder mit entsprechender Betreuung (Becker und Lauterbach 2010). Der Besuch einer frühkindlichen Bildungseinrichtung ist somit kein Garant für bildungsbedingte Mobilität. Inwiefern Rassismus bei der ungleichen Bildungsteilhabe eine Rolle spielt, untersuchen wir in dem Projekt.
Welche institutionellen Mechanismen den Zugang zu Kita-Plätzen in Deutschland beeinflussen, ist empirisch bisher nicht eindeutig beantwortet worden. Im Rahmen ihrer ethnographischen Feldstudie zu Institutionellem Rassismus am Übergang von Kita zu Schule in Deutschland zeigt Dean (2020), dass bestimmte institutionelle und organisatorische Verfahren rassistische Ausschlüsse erzeugen können. Ob rassistische Auswahlprozesse auch in anderen Kitas vorkommen, wie diese sich zeigen und durch welche Faktoren sie begünstigt bzw. verhindert werden, das wurde bislang noch nicht untersucht.
Die Frage danach ist aktuell jedoch von politischer und gesellschaftlicher Relevanz, unter anderem vor dem Hintergrund, dass im Jahr 2020 insgesamt 340.000 Betreuungsplätze für unter Dreijährige in Deutschland fehlten (Geis-Thöne 2020).
Die Ursachen für ungleiche Bildungsteilhabe sind empirisch ebenfalls noch nicht abschließend geklärt. Bisher haben Studien vornehmlich den familiären Kontext der Kinder fokussiert und Erziehungsvorstellungen sowie familiäre Lebenslagen als Faktoren identifiziert (Becker 2010). Daneben weisen erste neuere Studien darauf hin, dass auch institutionelle Diskriminierungsmechanismen eine wesentliche Rolle bei der Bildungspartizipation spielen (Dean 2020; Diehm und Kuhn 2006; Erhard et al. 2018; Nationaler Aktionsplan Integration 2020: 38). Einige Studien dokumentieren, dass Kinder Benachteiligung aufgrund ihrer Herkunftssprache (Thomauske 2017) oder Religion (Ramadan 2020) erfahren, oder aufgrund ihres Nachnamens (Hermes et al. 2023) bei der Kitaplatzvergabe benachteiligt werden. Welche rassistischen Diskriminierungsmechanismen frühkindliche Bildungseinrichtungen strukturieren, ist jedoch weitestgehend unerforscht.
Erste (Pilot-)Studien haben untersucht, wie sich Rassismus am Übergang von Kita zu Schule zeigt (Dean 2020) und welche Strategien Eltern im Umgang mit institutionellem Rassismus an Kitas entwickeln (Bostancı et al. 2022). Daneben gab es im Rahmen der Feldforschung für die Rassismusmonitor-Pilotstudie 2020/2021 zu „Institutionellem Rassismus an Kindertagesstätten“ (Bostancı et al. 2022) Indizien dafür, dass rassistische Wissensbestände und Routinen der Leitungsebene und des Personals wesentlich für rassistische Ausschlüsse in frühkindlichen Bildungseinrichtungen sein können. Inwiefern der Umgang mit Vielfalt auf Leitungs- und Personalebene beeinflusst, a) wie zugänglich Kitas sind und b) inwieweit gleichberechtigte Bildungsteilhabe gewährleistet wird, wurde bislang jedoch noch nicht untersucht.
Das Projekt soll Erkenntnisse darüber liefern, wie und warum a) der Zugang zu Kindertagesstätten und b) die Bildungspartizipation in Kitas in Berlin variieren. Es wird aufgezeigt, welche Mechanismen auf institutioneller Ebene dafür verantwortlich sind und wie diese die Bildungsgerechtigkeit in Deutschland beeinträchtigen.
Darüber hinaus liefert das Projekt Erkenntnisse dazu, inwieweit eine Institutionalisierung von Rassismuskritik etwa durch diskriminierungskritisch geschultes Personal, rassismuskritische Verfahrensweisen oder inklusive Lernumgebungen zu einem Abbau von institutionellem Rassismus beitragen kann.
Anhand von Interviews, Feldbeobachtungen und Vignetten wird untersucht, wie (anti-)rassistische Denkmuster, Handlungen und Angebote im Kita-Alltag und bei der Kita-Platz-Vergabe eine Rolle spielen und, ob und wie sich die postmigrantische Vielfalt in den pädagogischen Angeboten der Einrichtungen widerspiegelt.
In leitfaden- und vignettengestützten Interviews werden Expert*innen, Leitungskräfte und pädagogische Fachkräfte der frühkindlichen Bildung in Berlin hinsichtlich ihrer Perspektive und Erfahrungen im Blick auf die Vergabe von Kita-Plätzen und Bildungsbeteiligung befragt. Die Interviews werden durch fokussierte ethnografische Beobachtungen im Kita-Alltag und bei Auswahlprozessen bei der Vergabe von Kita-Plätzen ergänzt.
Unsere Untersuchungen machen deutlich, dass Kitas keine diskriminierungsfreien Räume sind.
- Diskriminierung und Ausschlüsse manifestieren sich in Kitas nicht nur in individuellen Handlungen, sondern auch in den Strukturen der Einrichtungen.
- Rassistisch benachteiligte Familien sind häufig mit (Alltags-)Rassismus konfrontiert.
- Eltern, die Diskriminierungserfahrungen oder mangelnde Repräsentation (z. B. in Büchern und Spielmaterialien) thematisieren, stoßen oft auf Blockaden.
- Rassistische Ausgrenzung spiegelt sich bereits in der Vergabe von Kitaplätzen wider. Der Zugang zu Kitas ist für viele Familien, denen ein Migrationshintergrund zugeschrieben wird, erschwert und erfolgt oft intransparent. Diskriminierende Auswahlmechanismen und eine rassistische Voreingenommenheit bei der Zusammenarbeit mit Eltern verschärfen diese Probleme.
Insgesamt wird deutlich, dass es in Kitas häufig an etablierten Verfahren im Umgang mit Diskriminierung mangelt. Eltern entwickeln eigene Strategien zur Bewältigung, während viele Kitas sich weigern, das Thema aktiv zu adressieren
Aktuelle Ergebnisse finden sich in unserer Publikation: Bostancı, Seyran; Wirth, Benedikt (2024): Institutioneller Rassismus in Kindertageseinrichtungen: Erscheinungsformen und Handlungsstrategien. Migration und Soziale Arbeit (01/2024), 56-62. https://www.beltz.de/fachmedien/sozialpaedagogik_soziale_arbeit/zeitschriften/migration_und_soziale_arbeit/artikel/53435-institutioneller-rassismus-in-kindertageseinrichtungen-erscheinungsformen-und-handlungsstrategien.html
Erkenntnisse zu Ausschluss- und Beteiligungsprozessen können dabei helfen zu verstehen, wie eine Institutionalisierung von Rassismuskritik zu einem Abbau von institutionellem Rassismus beitragen kann – etwa durch diskriminierungskritisch geschultes Personal, rassismuskritische Verfahrensweisen oder inklusive Lernumgebungen. Mit diesen Erkenntnissen als Grundlage können diskriminierungskritische Fortbildungsformate für Kita-Personal weiterentwickelt und evidenzbasierte Transformationsmaßnahmen erarbeitet werden, um zielgerichtet und wirkungsvoll mehr Bildungsgerechtigkeit zu ermöglichen.
Institutioneller Rassismus: Diese Form des Rassismus umfasst institutionelle Verfahrensweisen und Routinen, Wissensbestände und (fehlende) Repräsentation, die „lautlos“ innerhalb einer Organisation Diskriminierung nach sich ziehen können. Durch institutionellen Rassismus werden Kinder als anders markiert und von gleichberechtigter Bildungsteilhabe ausgeschlossen. Dies kann sich unter anderem in einer systematisch variierenden Qualität von Bildungsangeboten innerhalb von Kitas zeigen.
Aktuelles
(Veranstaltungen, Publikationen zum Projekt)
- Interview mit Dr. Seyran Bostancı (NaDiRa/DeZIM) über Rassismus im frühkindlichen Bildungsbereich, online unter: https://youtu.be/6rgr-bwHPUY?si=YnyAkVE7z4GRjaRp. (2023).
- Interview mit Dr. Seyran Bostancı „Rassismus ist ein Problem, dass auch vor der Kita nicht Halt macht“, online unter: https://www.duvk.de/stimmen-aus-der-wissenschaft-teil-viii/. (2022).
- Interview mit Dr. Seyran Bostancı (NaDiRa/DeZIM) über Rassismus im frühkindlichen Bildungsbereich, online unter: https://youtu.be/6rgr-bwHPUY?si=YnyAkVE7z4GRjaRp. (2023).
- Fachbeitrag von Dr. Seyran Bostancı „Inklusion von Anfang an: Strategien gegen Rassismus in der frühkindlichen Bildung“, online unter: https://www.erzieherin.de/inklusion-von-anfang-an-strategien-gegen-rassismus-in-der-fruehkindlichen-bildung.html
Ausgewählte Literatur
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Bostancı, Seyran; Wirth, Benedikt (2024): Institutioneller Rassismus in Kindertageseinrichtungen: Erscheinungsformen und Handlungsstrategien. Migration und Soziale Arbeit (01/2024), 56-62. DOI: 10.3262/MIG2401056.
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Bostancı, Seyran (2024): Wie mit Rassismus und Diskriminierung in der Kita umgehen?, KiTa aktuell. Die Fachzeitschrift für Kita-Management (04), Hessen, Rheinland-Pfalz, Saarland.
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Bostancı, Seyran; Biel, Christina; Neuhauser, Bastian (2022): „Ich habe lange gekämpft, aber dann sind wir doch gewechselt“: Eine explorativ-qualitative Pilotstudie zum Umgang mit institutionellem Rassismus in Berliner Kitas. NaDiRa Working Papers 1, Berlin: Deutsches Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM).
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Bostancı, Seyran (2022): Rassismus und Kindheit, in: Merz Zeitschrift für Medienpädagogik (Heft 5), online unter: https://www.merz-zeitschrift.de/alle-ausgaben/pdf/seyran-bostanci-rassismus-und-kindheit/?hc=1%27%2C%28%3B%29%29&cHash.
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Bostancı, Seyran (2022): Diskriminierungskritischer Umgang mit Kindern und Familien in familienpädagogischen Einrichtungen. In: Karl Kübel Stiftung für Kind und Familie (Hg.): Demokratie (er)leben - Familienzentren als Orte gelebter Demokratie: Impulse für die (pädagogische) Praxis. Bensheim: Karl Kübel Stiftung für Kind und Familie, 25-27.
Bostancı, Seyran; Ilgün-Birhimeoğlu, Emra (Hg.) (2024): Elementarpädagogik in der postmigratischen Gesellschaft: Theoretische und empirische Zugänge zu einer rassismuskritischen Pädagogik. Weinheim: Beltz Juventa.