Inter-migrantische Dynamiken und kumulierte Rassismuserfahrungen in Deutschland

Am Beispiel von türkeistämmigen Personen in Deutschland beleuchtet das Projekt inter-migrantische Dynamiken und kumulierte Rassismuserfahrungen im Zusammenhang von historischen Konfliktlinien, neuen Spannungsfeldern und institutionellen Rahmenbedingungen in Deutschland. Anhand dieser qualitativen Studie sollen Skalen entwickelt werden, die dann die quantitativen Erhebungen des NaDiRa.panels zu Diskriminierungserfahrungen (Betroffenenperspektive) sowie Einstellungen und Wissensbestände (Gesamtbevölkerungsperspektive) erweitern und ergänzen. 

Leitende Forschungsfragen

  • Welche Rassismus- und Diskriminierungserfahrungen werden von türkeistämmigen Personen in Deutschland gemacht?   
  • Wie identifizieren und verorten sich türkeistämmige Personen im inter-migrantischen Kontext zueinander? 
  • Wie werden Ungleichwertigkeitsideologien und Rassismen aus anderen nationalen Kontexten in Deutschland wirkungsmächtig und wie sieht ihre Wechselwirkung mit salienten Diskursen und Rassismen in Deutschland aus? 
  • Wie funktionieren Nationalismen und Rassismen im transnationalen Raum? 

Die Art und Weise wie wir Phänomenen und Prozessen, die lange unsichtbar waren, einen Namen geben, spiegelt wider, wie wir uns der Welt annähern. In der Folge spiegelt es das Wissen, das wir schaffen, um als Gesellschaft daran wachsen zu können. Ambivalente Gleichzeitigkeiten von Rassismen in Deutschland zu erkennen und zu benennen ist Voraussetzung einer transformativen und rassismuskritischen Arbeit. 

Rosa Burç, Projektkoordinatorin für "Inter-migrantische Dynamiken und kumulierte Rassismuserfahrungen"

Projektbeschreibung

Dieses Forschungsprojekt beschäftigt sich mit den Macht- und Hierarchieverhältnissen sowohl innerhalb von Migrant*innengruppen als auch in Beziehung zur Dominanzgesellschaft. Mit Hilfe von intergenerationellen und intersektionalen Ansätzen gilt es am Beispiel türkeistämmiger Personen in Deutschland die ethnische, religiöse und weltanschauliche Heterogenität migrantischer Communitys sichtbar zu machen, sowie zusammenhängende Erfahrungen von Diskriminierung, rassistische Verflechtungen und relevante intersektionale Faktoren zu ermitteln. 

Während Migrant*innengruppen in aktivistischen und zivilgesellschaftlichen Räumen, unter Rückgriff auf Leitbegriffe wie antikurdischer, antialevitischer oder antiezidischer Rassismus, immer mehr für inter-migrantische Dynamiken und transnationale Rassismen sensibilisieren und auf diese aufmerksam machen, bestehen in der Wissenschaft weiterhin große konzeptionelle und empirische Lücken. Bisherige Studien konzentrieren sich größtenteils auf die Ungleichwertigkeitsideologien spezifischer „ultranationalistischer“ Gruppen (z.B. Bozay 2017; Küpeli 2020) und beschäftigen sich mit interethnischen (z.B. Østergaard-Nielsen 2003; Baser 2015) oder interreligiösen Konflikten (z.B. Jikeli 2012; Kiefer 2007; Stender 2008). Jedoch wurde wesentlich weniger untersucht, wie sich dies im Alltag von weniger sichtbaren Gruppen auswirkt, insbesondere aus einer intersektionellen und intergenerationellen Perspektive. Eine Ausnahme ist hier die aktuelle Studie von Prof. Dr. Çinur Ghaderi mit dem Titel „Diversität und Rassismus in der Migrationsgesellschaft mit dem Fokus (Anti-)kurdischer Rassismus“, dessen erste Forschungsergebnisse im Oktober 2023 in Form eines Expertise-Dossiers vom Mediendienst Integration zugänglich gemacht wurden (Ghaderi & Almstadt 2023). Um diesem Forschungsbedarf nachzugehen, konzentriert sich dieses Projekt auf die konzeptionelle Erarbeitung eines transnationalen Rassismusbegriffs und auf eine empirische Aufarbeitung der Betroffenenperspektive von bislang marginalisierten Gruppen innerhalb türkeistämmiger Communities in Deutschland.

Das Forschungsprojekt bezweckt einen differenzierten Blick auf Macht- und Herrschaftsverhältnisse in der postmigrantischen Gesellschaft und möchte empirisch erfassen, wie diese von den betroffenen Communities empfunden werden. Außerdem steht neben der Betroffenenperspektive zusätzlich auch die relationale Ebene im Fokus des Forschungsprojekt, um zu erforschen wann Rassismen und Ungleichwertigkeitsideologien in inter-migrantischen Kontexten am Beispiel der heterogenen türkeistämmigen Communities kumuliert, reproduziert, angepasst und/oder überwunden werden. Mit der konzeptionellen Erarbeitung eines transnationalen Rassismusbegriffs, der die Wirkmächtigkeit der historisch-tradierten Rassismen und Ungleichwertigkeitsideologien aus verschiedenen nationalen Kontexten zusammendenkt und ihre verschiedenen Artikulationen in Deutschland empirisch aufarbeitet, ist es unser Ziel, einen signifikanten empirischen und theoretischen Beitrag für die Rassismusforschung in Deutschland zu leisten. Dieses Forschungsprojekt verfolgt ein hohes wissenschaftliches und gesellschaftspolitisches Erkenntnisinteresse, um Rassismus in Deutschland in seinen unterschiedlichen Ausprägungen und transnationalen Verflechtungen zu verstehen – eine Voraussetzung dafür, Rassismus in allen seinen Ausprägungsformen entgegenwirken zu können. 

Das Forschungsprojekt entwickelt hier eine generationenübergreifende und intersektionale Perspektive, die sich methodisch auf leitfadengestützte Interviews mit türkeistämmigen Personen in Deutschland, Werkstattgesprächen mit Vertreter*innen von zivilgesellschaftlichen Organisationen sowie Fokusgruppen stützt. Die Interviewpartner*innen werden grob nach sogenannten Migrationsgenerationen sowie nach der Geschlechterzusammensetzung stratifiziert. Die Fokusgruppen werden so aufgesetzt, dass intergenerationelle sowie intergruppen Dynamiken untersucht werden können. Zusätzlich werden Feldnotizen der partizipativen Beobachtung hinzugezogen, um insbesondere auch die nonverbale Kommunikation in der Auswertung der Daten zu erfassen.  

Das theoretische Grundgerüst stützt sich auf die Wissensbestände der rassismuskritischen Forschung, der Migrations- und Integrationsforschung und der kritischen Türkeiforschung. Über die Testung von Diskriminierung hinaus, verortet sich dieses Forschungsprojekt in den Theorien der rassismuskritischen Literatur. Ausgehend davon, dass Rassismus von Diskriminierung anhand des Repertoires zu unterscheiden ist, mit dem er analysiert wird (Foroutan 2020), liegen im Zentrum dieses Forschungsprojekts vor allem die Ermittlung der historischen und transnationalen Kontinuitäten, die emotional-identifikative Prozesse und relationale Beziehungen.  

Im Sinne eines wissenschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Begleitprozesses finden zusätzlich Gespräche und Gruppendiskussionen mit Expert*innen und Vertreter*innen von Migrant*innenorganisationen statt, die einerseits zur Vernetzung beitragen und anderseits dazu dienen sollen, die Zwischenergebnisse der fortlaufenden Studie in einem kontinuierlichen Austausch zu reflektieren.   

Erste qualitative Daten bestätigen die Ausgangshypothesen, dass gängige dichotome Kategorien und ein vereinfachtes Verständnis über die Wirkmächtigkeit von Rassismus zu kurz greifen. Die bislang erhobenen Daten deuten darauf hin, dass Rassismus- und Diskriminierungserfahrungen innerhalb der türkeistämmigen Communities nicht nur als individuelle Erfahrungen von Personen einzuordnen sind, sondern im Kontext von politischen und historischen Kontinuitäten verstanden werden müssen, die auch in Deutschland verortbar sind und das Potenzial haben, in Wechselwirkung mit anderen salienten Rassismen und Ungleichwertigkeitsideologien wirkmächtig zu werden.

Das Forschungsprojekt hat im Mai 2023 begonnen und läuft vorerst bis Ende 2024.

Die türkeistämmige Community in Deutschland ist sehr divers und ebenso vielfältig sind ihre Migrationsbiografien. Der terminologische Wandel von türkischstämmig zu türkeistämmig in wissenschaftlichen und öffentlichen Räumen hat den Anspruch sprachlich die ethnische, religiöse und weltanschauliche Heterogenität der in Deutschland lebenden Menschen mit Türkeibezug anzuerkennen. 

Es handelt sich bei kumulierten Rassismuserfahrungen einerseits „um eine Form der Machtausübung, die mit anderen Dimensionen gesellschaftlicher Beziehungen, zum Beispiel Sexismus oder Klassismus, interagiert“ (Foroutan 2020, S. 15). Andererseits geht dieses Projekt davon aus, dass Rassismen sowohl in nationalen Kontexten als auch im transnationalen Raum verortbar sind, sich in neue gesellschaftliche Kontexte eingliedern können und durch die Wechselwirkung mit anderen salienten Rassismen und Ungleichwertigkeitsideologien das Potential haben wirkungsmächtig zu werden. Von kumulierten Rassismuserfahrungen ist die Rede, wenn Personen und/oder Gruppen nicht nur eine Mehrfachdiskriminierung aufgrund von Merkmalen wie Ethnie, Klasse, Gender erfahren sondern auch der Wechselwirkung von unterschiedlichen Rassismen ausgesetzt sind, die zusammenkommen oder getrennt voneinander stattfinden können.  

Forschungsstrategien und Methoden

Weitere Forschung

Ansprechpartner*innen

Rosa Burç,

Wissenschaftliche Mitarbeiterin Abt. Migration & Nationaler Diskriminierungs- und Rassismusmonitor

Dr. Cihan Sinanoğlu,

Leiter Nationaler Diskriminierungs- und Rassismusmonitor

Dr. Ramona Rischke,

Co-Leiterin Abt. Migration

Esra Yula,

Wissenschaftliche Mitarbeiterin Abt. Migration & Nationaler Diskriminierungs- und Rassismusmonitor

Dr. Zeynep Yanaşmayan,

Leiterin Abt. Migration

Ausgewählte Literatur

  • Baser, Bahar (2015): Diasporas and Homeland Conflicts: Routledge 
  • Bozay, Kemal (2017): Unter Wölfen?! In: Kemal Bozay und Dierk Borstel (Hg.): Ungleichwertigkeitsideologien in der Einwanderungsgesellschaft. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden, S. 165–185.  
  • Foroutan, Naika (2020): Rassismus in der postmigrantischen Gesellschaft. In: Aus Politik und Zeitgeschichte (42-44), S. 12-18. Jikeli, Gerhard (2012): Antisemitismus und Diskriminierungswahrnehmungen junger Muslime in Deutschland. Essen: Klartext-Verl. 
  • Kiefer, Michael (2007): "Islamischer oder islamisierter Antisemitismus?". In: Wolfgang Benz (Hg.): Antisemitismus und radikaler Islamismus. ... Ergebnis einer Tagung des Zentrums für Antisemitismusforschung im Dezember 2005. 1. Aufl. Essen: Klartext-Verl. (Antisemitismus, Bd. 4), S. 71–84.  
  • Küpeli, Ismail (2020): Der türkische Nationalismus als antipluralistische Ideologie. In: Martin Jander und Anetta Kahane (Hg.): Gesichter der Antimoderne: Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, S. 305–318.  
  • Østergaard-Nielsen, Eva (2003): The Politics of Migrants’ Transnational Political Practices. In: International Migration Review 37 (3), S. 760–786. DOI: 10.1111/j.1747-7379.2003.tb00157.x.  
  • Stender, Wolfram (2008): Der Antisemitismusverdacht. Zur Diskussion über einen migrantischen Antisemitismus in Deutschland. In: Migration und Soziale Arbeit (3-4), S. 284–290.
  • Ghaderi, Çinur und Esther Almstadt (2023): Kurden in Deutschland, Expertise des Medienberichts Integration.