Rassismus in der ärztlichen Ausbildung
Ärzt*innen haben eine zentrale Bedeutung für die Gesundheitsversorgung. Daher sind ihre Ausbildung und das dort vermittelte Wissen grundlegende Elemente alltäglicher Versorgungspraktiken. Das Projekt untersucht institutionellen Rassismus in der Gesundheitsversorgung, indem es stichprobenartig einschlägige Lehrmaterialien der ärztlichen Ausbildung in Deutschland analysiert. Außerdem werden Interviews und Fokusgruppen mit rassifizierten Medizinstudierenden und Ärzt*innen durchgeführt, die Aufschluss über deren Alltagserfahrungen in Studium und Praxis liefern.
Leitende Forschungsfragen
- Findet sich rassistisches Wissen in der ärztlichen Ausbildung in Deutschland?
- In welcher Form?
- Welche Rolle spielen verschiedene institutionelle Dimensionen (Akteur*innen, Dokumente, Settings) für die Legitimierung und Aufrechterhaltung rassistischer Wissensbestände und Praktiken?
- Welche Aspekte erachten rassifizierte Medizinstudierende und Ärzt*innen diesbezüglich für wichtig?
Projektbeschreibung
Rassistische Ungleichheiten im Hinblick auf das Gesundheitswesen äußern sich in unterschiedlichem Zugang, in unterschiedlicher Nutzung gesundheitsbezogener Maßnahmen und Einrichtungen sowie in vorherrschenden rassifizierenden Stereotypen und Vorurteilen gegenüber und mangelnden Repräsentation von betroffenen Gruppen – mit Blick sowohl auf das Gesundheitspersonal als auch auf Patient*innen (vgl. Ahlberg et al. 2019). Allerdings fehlt in Deutschland systematische Forschung dazu, inwiefern institutionelle Diskriminierungsrisiken dem gleichberechtigten Zugang zum Gesundheitssystem und einer adäquaten medizinischen Versorgung entgegenstehen.
Das Projekt beleuchtet die Frage nach institutionellem Rassismus im deutschen Gesundheitswesen über eine soziologische partizipative Annäherung an rassistische Wissensbestände in Lehrmaterialien und subtilen Sozialisationsprozessen („hidden curriculum“) in der Ausbildung von Ärzt*innen. Aufgrund der zentralen Bedeutung von Ärzt*innen für die Gesundheitsversorgung kann ihre Ausbildung und die darin enthaltene Vermittlung von Wissen als wichtiges Element im Kontext alltäglicher Versorgungspraktiken betrachtet werden.
In der Forschung wurde das Medizinstudium im Kontext von Rassismus in Deutschland vor allem von drei Studien beleuchtet: Der Afrozensus benennt neben schwierigen beruflichen Zugängen für Schwarze Ärzt*innen eine mangelnde Auseinandersetzung mit Othering-Prozessen, Stereotypisierungen und die Folgen von Rassismus für die Gesundheit (Aikins, M. A. et al. 2021: 139–145). Eine zweite Studie, die das Thema der ärztlichen Ausbildung in Deutschland im Blick hat, verweist insbesondere auf die Perspektiven von Studierenden mit und ohne Rassismuserfahrungen: Rassismus in Medizin und Gesundheitswesen wird von allen Studierenden als allgegenwärtiges Phänomen wahrgenommen. Daran anschließend halten es die Studierenden für wichtig, bereits in der medizinischen Ausbildung etwas gegen Rassismus in Medizin und Gesundheitswesen auf verschiedenen Ebenen zu unternehmen. Da aber kein einheitliches Rassismusverständnis gegeben ist, fällt es vielen Studierenden schwer, rassistische Verhaltensweisen und Strukturen zu erkennen (vgl. Gerhards, Schweda & Weßel 2023). Die Arbeit von Houda Hallal (2015) zu Diversität in der humanmedizinischen Ausbildung lässt sich mit Erkenntnissen der internationalen Forschung verknüpfen und bildet wichtige Ausgangspunkte für die vorliegende Studie (vgl. Amutah et al. 2021; Chapman, Kaatz & Carnes 2013). So beschreibt Hallal die unreflektierte Verinnerlichung „normativer sowie monokultureller Strukturmerkmale der [medizinischen] Institutionen“ (2015: 28) in Deutschland und eine potenziell daraus resultierende Anwendung von „Vorurteilen, Stereotypisierungen und ‚reduktionistischen Auslegungen‘“ (ebd.) in der medizinischen Praxis.
Das Projekt nähert sich der Frage nach Rassismus in der ärztlichen Ausbildung. Es nimmt Stichproben von Lehrmaterialien aus dem Medizinstudium in Deutschland in den Blick und reflektiert diese über Interviews sowie Fokusgruppendiskussionen mit rassistisch markierten Studierenden und Ärzt*innen. Die Erfahrungen der Interview- und Fokusgruppen-Teilnehmer*innen stehen dabei im Zentrum.
Das Forschungsprojekt untersucht über eine partizipative Exploration die Perspektiven rassistisch markierter Medizinstudent*innen und Ärzt*innen auf ihre Alltagserfahrungen in Studium und Praxis. Der dezidierte Blick auf die Lehrmaterialien und deren gemeinsame Reflexion liefern Hinweise auf die Institutionalisierung und organisationale Verschränkung von rassistischen Wissensbeständen auf verschiedenen Ebenen des Medizinstudiums in Deutschland.
Um sich der Fragestellung systematisch zu nähern, geht das Projekt in vier Schritten vor:
1. Um Rekrutierungsstrategien auszuloten und umzusetzen und sich im Feld inhaltlich zu orientieren, werden Vorgespräche mit Stakeholdern und Expert*innen geführt und Kontakte zu verschiedenen Netzwerken und Organisationen aufgebaut.
2. Basierend auf diesen Gesprächen und Kontakten werden einschlägige, weit verbreitete Lehrmaterialien (Standard-Lehrbücher marktführender Verlage, die Lern-App Amboss inkl. Examensfragen, die Lernplattform via medici des Thieme-Verlags, NKLM etc.) aus verschiedenen medizinischen Fachbereichen gesichtet und einer ersten Stichproben-Analyse unterzogen.
3. Diese Analyse resultiert in einer verschriftlichten Beispiel- und Thesensammlung, die daraufhin in Einzelinterviews mit Medizinstudierenden und Ärzt*innen, die eigenen Angaben zufolge von Rassismus betroffen sind (Selbst-Identifikation), gemeinsam diskutiert wurden. Die Interviews werden leitfadengestützt und mit Bezug auf berufliche bzw. Alltagserfahrungen in der Ausbildung der Befragten durchgeführt.
4. Auf Basis einer ersten Inhaltsanalyse der Interviews wird eine Themensammlung verschriftlicht und in zwei Fokusgruppen gemeinsam besprochen. Die in den Fokusgruppen final erarbeiteten Codes werden genutzt, um die Daten in einer Gesamtbetrachtung auszuwerten.
Erste Resultate weisen auf die zentrale Bedeutung der Wechselseitigkeit verschiedener Mechanismen, Dynamiken und Strukturen für die Manifestation und Perpetuierung rassistischer Wissensbestände und Praktiken in der ärztlichen Ausbildung und Berufsausübung hin. Beispielsweise spiegeln sich Lehrmaterialieninhalte in Alltagspraktiken. Organisationale und intersektionale Hierarchien befördern die De-Thematisierung von Rassismus. Zeitdruck spielt bei der Diskriminierung von Patient*innen eine Rolle.
Die Ergebnisse zeigen auf, welche Aspekte und Verschränkungen bei weiteren, vertiefenden Studien und praktischen Auseinandersetzungen mit Lehrmaterialien und Lehrpraktiken im Medizinstudium Beachtung finden sollten. Zudem tragen sie zur Entwicklung neuer Indikatoren für die Erforschung rassistischer Diskriminierung in der medizinischen Ausbildung bei.
Die Studie basiert auf der Annahme, dass die Aneignung und Anwendung ärztlichen Wissens über rein medizinisch-naturwissenschaftliche Kenntnisse und Fähigkeiten hinaus gehen. Auch Normen und Handlungsmuster, die in der ärztlichen Ausbildung eher unterschwellig oder informell über einen „heimlichen Lehrplan“ (hidden curriculum) als ärztlicher Habitus vermittelt werden, sind für die Ausbildung essenziell (vgl. z. B. Witman 2014). Im Umgang mit Kolleg*innen und Patient*innen hängt viel von einem internalisierten professionellen Selbstbild ab, in dem soziale Schichtung und entsprechende Differenzierung als eine bedeutsame Dimension eingeschrieben sind. Die damit einhergehenden Normen und Handlungsmuster verquicken sich mit dem medizinischen Fachwissen, dem wissenschaftlichen Anspruch und den professionellen Praktiken. All das prägt das Selbst- und Menschenbild der Ärzt*innenschaft und damit deren Umgang mit Patient*innen. Die Weitergabe und Legitimation unterschwelliger Wissensbestände über Lehrmaterialien, Lehrveranstaltungen und Praktika sind nicht ausschließlich dem Handeln von individuellen Akteur*innen, wie zum Beispiel Dozierenden, zuzuschreiben. Sie sind Ausdruck und Folge gesellschaftlicher Verhältnisse, die sich in Institutionen und der professionellen Sozialisierung niederschlagen.
Der Zusammenhang von Rassismus und Wissensproduktion bildet einen wichtigen Fokus rassismuskritischer Forschung. Vor allem die von Michel Foucault (2014) betonte gegenseitige Durchdringung von Macht und Wissen ist in diesem Kontext Ausgangspunkt vieler Arbeiten. ‚Wissen‘ kann hier als sozial anerkannte, verfügbar gemachte Form der Macht verstanden werden, die nicht als (reine) Ressource fungiert, sondern selbst das gesellschaftliche Funktionieren gewährleistet und immer wieder aus diesem hervorgeht. Wissen bewegt sich dabei zwischen Diskursen und Praktiken sowie zwischen dem Subjekt als vergesellschaftetem Individuum und übergeordneten Ordnungsstrukturen wie Medien, Wissenschaft, Institutionen oder Staaten. Wissen kann epochenabhängig unterschiedliche wissenschaftliche Klassifikationsprozesse, Deutungen und Normative hervorbringen. Wissenssoziologischen Erkenntnissen zufolge können Wissensbestände, die immer sozial konstruiert sind und über Sozialisationsinstanzen vermittelt werden, niemals isoliert von gesellschaftlichen Machtverhältnissen betrachtet und somit auch nicht unabhängig von diesen als wahr oder unwahr, richtig oder falsch angenommen werden.
Rassistische Praktiken funktionieren vorwiegend als gruppenbezogene Ausgrenzungspraktiken, die auf dem Prozess der Rassifizierung basieren. Dieser (re-)produziert Wissen, welches bestimmte Gruppen anhand bestimmter Merkmale konstruiert, kategorisiert, homogenisiert und zugunsten einer Norm hierarchisiert bzw. abwertet (vgl. Terkessidis 2004).
Weitere Forschung
Ausgewählte Literatur
- Aikins, Muna AnNisa; Bremberger, Teresa; Aikins, Joshua Kwesi; Gyamerah, Daniel; Yıldırım-Caliman, Deniz (2021): Afrozensus 2020: Perspektiven, Anti-Schwarze Rassismuserfahrungen und Engagement Schwarzer, afrikanischer und afrodiasporischer Menschen in Deutschland. Berlin.
- Amutah, Christina; Greenidge, Kaliya; Mante, Adjoa; Munyikwa, Michelle; Surya, Sanjna L.; Higginbotham, Eve et al. (2021): Misrepresenting Race - The Role of Medical Schools in Propagating Physician Bias. In: The New England journal of medicine 384 (9), S. 872–878. DOI: 10.1056/NEJMms2025768.
- Bartig, Susanne; Kalkum, Dorina; Le, Ha Mi; Lewicki, Aleksandra (2021): Diskriminierungsrisiken und Diskriminierungsschutz im Gesundheitswesen – Wissensstand und Forschungsbedarf für die Antidiskriminierungsforschung. Hg. v. Antidiskriminierungsstelle des Bundes. Antidiskriminierungsstelle des Bundes. Online verfügbar unter www.antidiskriminierungsstelle.de/SharedDocs/downloads/DE/publikationen/Expertisen/diskrimrisiken_diskrimschutz_gesundheitswesen.pdf
- Bonilla-Silva, Eduardo (1997): Rethinking Racism: Toward a Structural Interpretation. In: American Sociological Review 62 (3), S. 465. DOI: 10.2307/2657316.
- Chapman, E.N.; Kaatz, A.; Carnes, M (2013): Physicians and implicit bias: how doctors may unwittingly perpetuate health care disparities. J Gen Intern Med. 2013 Nov;28(11):1504-10. doi: 10.1007/s11606-013-2441-1
- Eggers, M.M. (2005): "Rassifizierte Machtdifferenz als Deutungsperspektive in der kritischen Weißseinsforschung in Deutschland". In: Eggers et al.: Mythen, Masken und Subjekte. Münster: Unrast Verlag.
- Essed, P. (2005): „Everyday Racism: A New Approach to the Study of Racism“. In Essed and Goldstein: Race Critical Theories. Blackwell Publishing.
- Foucault, M. (2014): Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I. Frankfurt: Suhrkamp.
- Gerhards S, Schweda M, Weßel (2023): Medical students’ perspectives on racism in medicine and healthcare in Germany: Identified problems and learning needs for medical education. In: GMS Journal for Medical Education 40 (2).
- Hallal, H. (2015): Diversität in der humanmedizinischen Ausbildung. Marburg: Tectum Verlag.
- Miles, R. (1991): Rassismus. Einführung in die Geschichte und Theorie eines Begriffs. Hamburg: Argument Verlag.
- Puwar, N. (2001). The Racialised Somatic Norm and the Senior Civil Service. Sociology, 35(3), 651–670. http://www.jstor.org/stable/42858214
- Terkessidis, Mark (2004): Die Banalität des Rassismus. Migranten zweiter Generation entwickeln eine neue Perspektive. 1st ed. Bielefeld: transcript-Verlag (Kultur und soziale Praxis). Online verfügbar unter ebookcentral.proquest.com/lib/kxp/detail.action.
- Witman, Yolande (2014): What do we transfer in case discussions? The hidden curriculum in medicine… In: Perspectives on medical education 3 (2), S. 113–123. DOI: 10.1007/s40037-013-0101-0.