Wahrgenommene Prototypikalität verschiedener Gruppen in der deutschen Gesellschaft
Menschen tendieren dazu, die Eigenschaften, Werte, Ideologien und Verhaltensweisen ihrer eigenen Gruppe als allgemeingültigen gesellschaftlichen Standard anzunehmen. Wer von diesem Standard abweicht, wird als weniger zugehörig wahrgenommen. Dieser sozialpsychologische Mechanismus führt dazu, dass Personengruppen in eine gesellschaftliche Hierarchie eingeordnet werden, welche Privilegien und Benachteiligung legitimiert. Das Projekt untersucht am Beispiel von anti-Muslimischem und anti-Schwarzem Rassismus, wie sich diese Mechanismen in den komplexen Dynamiken von Rassismus zeigen, welche Perspektive Betroffene von Rassismus darauf haben, und welche Voraussetzungen und Konsequenzen damit einhergehen.
Leitende Forschungsfragen
- Welchen Beitrag leisten sozialpsychologische Dynamiken von Gruppenvergleichen zur Erklärung von Rassismus?
- Wie typisch oder repräsentativ werden arabisch gelesene, Schwarze und weiße Menschen in Deutschland gesehen?
- Wie unterscheiden sich dabei die Perspektiven von Betroffenen von Rassismus und Personen aus der Mehrheitsbevölkerung?
Projektbeschreibung
Diverse Gesellschaften profitieren häufig davon, wenn alle ethnisch-kulturellen Gruppen in eine gemeinsame übergeordnete Kategorie, wie „Deutschland“ oder „die deutsche Gesellschaft“ inkludiert werden. Das kann zu positiven Einstellungen gegenüber Vielfalt und einer Annäherung zwischen den Gruppen führen (Dovidio et al., 2009). Diese Inklusion birgt jedoch auch Gefahren. Mitglieder der Gesellschaft vergleichen soziale Gruppen anhand dessen, was sie als normal für DIE Gesellschaft ansehen – wer also gut dazu passt und wer nicht (Mummendey et al., 1999). Am besten bewertet wird die Gruppe, die den sogenannten Prototypen der Gesellschaft am besten repräsentiert. Dabei tendieren Personen dazu den Standard ihrer eigenen Gruppe so weit wie möglich auf die Gesamtgesellschaft zu übertragen. Die eigene Gruppe wird so häufig als prototypischer gesehen als andere und infolgedessen positiver wahrgenommen (Wenzel et al., 2007). Die Aberkennung von Zugehörigkeit zur Gesellschaft bei betroffenen Personen(gruppen) kann zu Desidentifikation und Rückzug in die eigene Subgruppe führen (Da Silva et al., 2021). Zudem gehen Unterschiede in der Prototypikalität zwischen Gruppen mit der Legitimation von Privilegien und Machtverhältnissen einher.
Häufig gibt es Uneinigkeiten darüber, wie prototypisch bestimmte Gruppen für eine Gesellschaft sind (Waldzus et al., 2004). Das kann zu Missverständnissen und Diskriminierung führen, die gesellschaftliche Aushandlungsprozesse fordern. Studien aus den USA zeigen zum Beispiel, dass Schwarze US-Amerikaner*innen ihre eigene Gruppe als „amerikanischer“ wahrnehmen als dies europäische oder asiatische US-Amerikaner*innen tun. Die Befragten waren sich jedoch einig, dass europäische Personen den US-amerikanischen Prototypen am besten verkörpern. Schwarzen und asiatischen Personen dagegen wurde ihr „Amerikanisch-Sein“ von den anderen abgesprochen (Devos & Banaji, 2005).
Bislang gibt es nach unserem Kenntnisstand keine Studien, welche die komplexen Intergruppendynamiken postmigrantischer Gesellschaften in Europa mit Fokus auf Rassismus mit repräsentativen Daten betrachten. Während es auch in Deutschland einige Forschung zur Wahrnehmung von rassistisch markierten Personengruppen aus Sicht der Mehrheitsgesellschaft gibt, ist unklar, welche Rolle dabei die Repräsentation der nationalen Identität spielt und inwiefern Ansichten der Mehrheitsgesellschaft von Personen, die von Rassismus betroffen sind, geteilt werden.
In Ländern wie Deutschland, in denen die dominante Mehrheit weiß ist, bestimmen deren Vorstellungen den gesellschaftlichen Standard (Sidanius & Pratto, 2004). Diese theoretischen Annahmen weisen deutlich darauf hin, dass weiße Menschen in Deutschland als Pars Pro Toto gelten und rassistisch markierte Minderheiten an diesem Standard gemessen werden. Um diese Dynamiken aufzudecken, betrachten wir den Prototypikalitätsansatz am Beispiel arabisch gelesener, Schwarzer und weißer Menschen. Zudem möchten wir untersuchen, wie sich die Gruppen in ihrer wahrgenommenen Abweichung vom gesamtgesellschaftlichen Standard unterscheiden und weshalb – und welche Folgen das für die gesellschaftliche Inklusion hat. Die Studien übertragen somit theoretische Erkenntnisse von Intergruppenbeziehungen auf rassistische Dynamiken in Deutschland. Insgesamt liefern sie Erkenntnisse darüber, welche Rolle soziale Vergleiche und weiße Standards in der Reproduktion von Rassismus in Deutschland spielen.
Ziel der Untersuchung ist herauszufinden, inwiefern sozialer Ausschluss und Abwertung durch Rassismus mit psychologischen Dynamiken einhergehen, die beschreiben können, wer dazu und wer nicht dazu gehört. Das Projekt fokussiert die theoretische Übertragung der Modelle auf Rassismus in Deutschland am Beispiel arabisch [Die Begriffe "Araber*innen" und "Muslim*innen" werden in der Darstellung in den deutschen Medien und im öffentlichen Diskurs meist austauschbar verwendet (Shooman, 2012).] gelesener, Schwarzer und weißer Menschen in Deutschland. Arabisch gelesene und Schwarze Personen in Deutschland finden im öffentlichen Raum im Zusammenhang mit Rassismus besonders häufig Erwähnung und werden als realistische ((z.B. weniger Arbeitsplätze) oder kulturelle Bedrohung (z.B. mehr unbekannte Bräuche und Werte) diskutiert und wahrgenommen (siehe z.B.: Stürmer et al., 2019). In Deutschland leben ca. 1,5 Millionen Menschen aus arabischsprachige Regionen und 1 Millionen Schwarze Menschen, die Ziel dieser Rassismen sind oder sein können. Als Fokusgruppen im Rassismusmonitor möchten wir deshalb auch speziell die Perspektive der Personen einbeziehen, die sich selbst als arabische und/oder Schwarze Menschen sehen.
Dabei können wir einerseits feststellen, wie typisch oder repräsentativ arabisch gelesene, Schwarze und weiße Menschen für Menschen in Deutschland wahrgenommen werden und warum sich Personen in ihrem Urteil unterscheiden. Andererseits decken wir zugrundeliegende Mechanismen von Rassismus auf, die dazu führen, dass Menschen aus rassistischen Gründen ausgeschlossen und abgewertet werden. Diese Mechanismen begründen auch soziale Konflikte zwischen den Gruppen, die gegenseitiger Akzeptanz und Gleichberechtigung entgegenstehen.
[Die Begriffe "Araber*innen" und "Muslim*innen" werden in der Darstellung in den deutschen Medien und im öffentlichen Diskurs meist austauschbar verwendet (Shooman, 2012).]
In Vortestungen werden verschiedene Erhebungsinstrumente getestet und explorative Voraussetzungen und Konsequenzen von Prototypikalität untersucht. Dafür werden zunächst verschiedene Instrumente entwickelt und auf ihre Eignung und Wirksamkeit geprüft, Rassismus-relevante Daten zu erheben. Dabei werden zunächst die Zusammenhänge von wahrgenommener Diversität in Deutschland, Wahrnehmung des Zusammenlebens und Legitimation rassistischer Ungleichheit betrachtet.
Ein ausgewähltes Instrument wurde auch in das NaDiRa.panel aufgenommen, um den Einfluss multipler Perspektiven auf die wahrgenommene Prototypikalität zu ermitteln. Diese Daten können zeigen, inwiefern auch die Betroffenenperspektive Status und Privilegien durch soziale Vergleiche begründet oder in Frage stellt.
Zwei abgeschlossene Studien mit quotierten Stichproben (je ca. 3.000 Personen) aus der Mehrheitsgesellschaft zeigen bereits, dass arabisch gelesene und Schwarze Menschen weniger prototypisch für Menschen in Deutschland gesehen werden als weiße Menschen. Das heißt, weiße Menschen verkörpern den gesellschaftlichen Standard erwartungsgemäß am besten. Dies zeigte sich aus Sicht der weißen Mehrheitsgesellschaft und einer Substichprobe von Migranten*innen der ersten oder zweiten Generation (ca. 400 Teilnehmende). Zudem ging die Meinung, rassistisch markierte Minderheiten würden weniger gut zu Deutschland passen, mit der Einstellung einher, dass soziale Ungleichheit zwischen den Gruppen gerechtfertigt sei. Das zeigt, dass psychologische Mechanismen des Intergruppenvergleichs anhand des gesellschaftlichen Standards auch rassistische Dynamiken beschreiben können.
Eine spezifische Untersuchung zu Prototypikalitätsbewertungen durch Ost- und Westdeutsche zeigte auch bedeutsame Unterschiede: arabisch gelesene und Schwarze Menschen werden von Ostdeutschen als weniger typisch für Menschen in Deutschland gesehen als von Westdeutschen. Dieser Unterschied wird nur teilweise durch politische Einstellungen der Befragten und den wahrgenommenen Anteil der Gruppen in der deutschen Bevölkerung erklärt.
Zudem nehmen Personen der weißen Mehrheitsgesellschaft arabisch gelesene Menschen als weniger prototypisch für Menschen in Deutschland wahr als Schwarze Menschen, obwohl mehr arabische als Schwarze Personen in Deutschland leben. Das unterstreicht, dass neben der sozialen Realität (wie hoch ist der Anteil in der Bevölkerung) die Einschätzung auch motivationalen und/oder strategischen Einflüssen unterliegt: es scheint von Bedeutung zu sein, wer eigentlich dazu gehören darf oder sollte.
Die Ergebnisse tragen zu unserem Verständnis über die Dynamiken hinter rassistischen Abwertungen und Legitimation von rassistischer Ungleichheit in Deutschland bei. Welcher Standard gilt für eine Gesellschaft, eine Gruppe oder an einem Ort und welche Personen passen dazu? Auf dieser Basis können Gesellschaft, Organisationen und Einzelpersonen ihre eigenen Standards in Frage stellen und gemeinsam mit rassismuserfahrenen Personen neue Standards aushandeln. Dabei zählt nicht nur die Frage, „Wer sind wir?“, sondern vor allem: „Wie wollen wir eigentlich sein“. So folgt der Wahrnehmung die Gesellschaft sei vielfältig und es gibt verschiedene Wege dazu zu gehören, dass unterschiedliche Gruppen als prototypisch gesehen und in ihren Einzigartigkeiten akzeptiert und wertgeschätzt werden (Wenzel et al., 2007).
Prototypikalität: Ein Prototyp repräsentiert das am besten passendes und repräsentativstes Beispiel einer Kategorie. Prototypikalität bedeutet, wie typisch bzw. repräsentativ eine Person oder Personengruppe für einen übergeordneten Standard ist, zum Beispiel für die deutsche Gesellschaft. Prototypikalitätsbewertungen beschreiben also die Passung einer Personengruppe in eine Gesellschaft, Organisation oder Region aus Sicht der Urteilenden.
Kontakt
Wenn Sie Fragen zu dem Projekt haben oder Kontakt zu den Projektbeteiligten aufnehmen möchten, melden Sie sich gerne unter: rassismusmonitoring(at)dezim-institut.de
Ausgewählte Literatur
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Devos, T., & Banaji, M. R. (2005). American = White? Journal of Personality and Social Psychology, 88(3), 447–466. https://doi.org/10.1037/0022-3514.88.3.447
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Dovidio, J. F., Gaertner, S. L., & Saguy, T. (2009). Commonality and the complexity of "we": Social attitudes and social change. Personality and Social Psychology Review : An Official Journal of the Society for Personality and Social Psychology, Inc, 13(1), 3–20. https://doi.org/10.1177/1088868308326751
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Mummendey, A [A.], Kessler, T., Klink, A., & Mielke, R. (1999). Strategies to cope with negative social identity: Predictions by social identity theory and relative deprivation theory. Journal of Personality and Social Psychology, 76(2), 229–245. https://doi.org/10.1037//0022-3514.76.2.229
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Shooman, Y. (2012). Das Zusammenspiel von Kultur, Religion, Ethnizität und Geschlecht im antimuslimischen Rassismus. Aus Politik Und Zeitgeschichte, 52–57. https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/130422/das-zusammenspiel-von-kultur-religion-ethnizitaet-und-geschlecht-im-antimuslimischen-rassismus/
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Sidanius, J., & Pratto, F. (2004). Social dominance: An intergroup theory of social hierarchy and oppression. Cambridge University Press.
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Stürmer, S., Rohmann, A., Froehlich, L., & van der Noll, J. (2019). Muslim Immigration, Critical Events, and the Seeds of Majority Members' Support for Radical Responses: An Interactionist Perspective. Personality & Social Psychology Bulletin, 45(1), 133–145. https://doi.org/10.1177/0146167218780989
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Waldzus, S., Mummendey, A. [Amélie], Wenzel, M., & Boettcher, F. (2004). Of bikers, teachers and Germans: Groups' diverging views about their prototypicality. British Journal of Social Psychology, 43(Pt 3), 385–400. https://doi.org/10.1348/0144666042037944
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Wenzel, M., Mummendey, A. [Amélie], & Waldzus, S. (2007). Superordinate identities and intergroup conflict: The ingroup projection model. European Review of Social Psychology, 18(1), 331–372. https://doi.org/10.1080/10463280701728302
Da Silva, C., Badea, C., Bender, M., Gruev-Vintila, A., & Reicher, S. (2021). National identity misrecognition and attitudes toward the French mainstream society. Peace and Conflict: Journal of Peace Psychology, 27(4), 542–553. https://doi.org/10.1037/pac0000549