Theoretische Perspektiven auf Antisemitismus und antimuslimischen Rassismus in der postmigrantischen Gesellschaft

Für eine erkenntnistheoretische Anschlussfähigkeit des Rassismusmonitors an die internationale Forschung bedarf es einer theoretischen und empirischen Grundlagenarbeit zum Verhältnis des Antisemitismus zu verschiedenen Formen des Rassismus – insbesondere zum antimuslimischen Rassismus, mit dem er in der deutschen Gegenwartsgesellschaft vielfach verflochten ist. Beide Phänomene prägen gesellschaftliche Deutungs- und Wahrnehmungsmuster, in denen Zugehörigkeit, Sicherheit und Legitimität ausgehandelt werden. Obwohl sie auf unterschiedlichen historischen und ideologischen Grundlagen beruhen, wirken sie häufig wechselseitig aufeinander ein, etwa in rechtsextremen Diskursen, medialen Zuschreibungen oder politischen Konfliktlagen.

Empirische Befunde zeigen, dass antisemitische und antimuslimische Einstellungen in Deutschland nicht isoliert, sondern in gegenseitiger Verstärkung auftreten. Bereits vor den Ereignissen des 7. Oktober 2023 verdeutlichten Untersuchungen - aber auch Ereignisse wie z.B. der Anschlag in Halle Saale 2019 -, dass antisemitische und antimuslimische Feindbilder in ihren Ursachen, Ausdrucksformen und gesellschaftlichen Resonanzen miteinander verschränkt sind. Diese Dynamiken haben sich in den letzten Jahren weiter intensiviert und machen deutlich, dass eine differenzierte Analyse ihrer Schnittverhältnisse und gegenseitigen Bezüge für das Verständnis gegenwärtiger Diskriminierungs- und Polarisierungsprozesse unerlässlich ist

Leitende Forschungsfragen

  • Wie kann Antisemitismus als Strukturmoment der postmigrantischen Gesellschaft theoretisch gefasst werden und seine spezifische Funktion in Prozessen gesellschaftlicher Selbstverortung verstanden werden?
  • Welche Wechselwirkungen bestehen zwischen Diskursebene (Wissenschaft, Medien, Politik) und Erfahrungsebene (Betroffene, Communitys) in Bezug auf antisemitische und antimuslimische Zuschreibungen und wie können diese in quantitativen Studien berücksichtig werden?
  • Wie lässt sich Antisemitismus im Kontext seiner Verflechtungen mit antimuslimischem Rassismus theoretisch fassen, ohne beide Phänomene zu vermischen oder gleichzusetzen?
  • Wie lassen sich die bestehenden Messinstrumente so anpassen, dass sie diese Verschränkungen empirisch adäquat abbilden?

     

 „Antisemitismus ist ein zentrales Strukturmoment der deutschen Gegenwartsgesellschaft. Um seine aktuellen Formen zu verstehen, müssen auch seine Verflechtungen mit antimuslimischem Rassismus in den Blick genommen werden. Beide wirken – auf unterschiedliche Weise – als Mechanismen der Abwertung und des Ausschlusses. Ihre gleichzeitige, differenzierte Erforschung ist notwendig, um zu verstehen, wie sich gesellschaftliche Grenzziehungen und Bedrohungswahrnehmungen im postmigrantischen Deutschland verändern.“

Neta-Paulina Wagner, Wissenschaftliche Mitarbeiterin Nationaler Diskriminierungs- und Rassismusmonitor

Projektbeschreibung

Das Projekt untersucht gegenwärtige Formen des Antisemitismus und deren Verflechtungen mit antimuslimischem Rassismus in Deutschland. Beide Ideologien beruhen auf Prozessen der Andersmachung (Othering), die Zugehörigkeit und gesellschaftliche Ordnung strukturieren. Während Antisemitismus tief mit der deutschen Erinnerungskultur und nationalen Selbstvergewisserung verbunden ist, manifestiert sich antimuslimischer Rassismus stärker in aktuellen Debatten über Migration, Integration und Sicherheit.

Das Projekt analysiert, wie sich beide Formen der Abwertung gegenseitig bedingen, abgrenzen oder überlagern, und wie diese Dynamiken theoretisch und empirisch erfasst werden können – mit besonderem Fokus auf den deutschen postmigrantischen Kontext.

Während es in der internationalen Forschung eine längere Tradition des gemeinsamen Beforschens von Rassismus bzw. verschiedenen Rassismen und Antisemitismus gibt (vgl. Rothberg, 2009), bleiben diese beiden Forschungsrichtungen in Deutschland bislang weitestgehend getrennt. Dies hängt u. a. damit zusammen, wie sich diese Felder vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte herausgebildet haben. Beide entspringen sozialen Bewegungen, die etwa zeitgleich ihren Ausgang fanden, sich jedoch zu sehr unterschiedlichen Zeitpunkten institutionalisierten.

Speziell seit den 1990er Jahren entwickelte sich innerhalb Deutschlands – auch auf staatlicher Ebene – eine hohe Sensibilität für den eigenen postnazistischen Charakter. In enger Verschränkung mit der Forschung zur Geschichte und Nachgeschichte des Holocaust etablierte sich zunächst die Analyse des Antisemitismus sowie der vielfältigen Erscheinungsformen von Rechtsextremismus und Rechtsradikalismus. Rassismus wurde in diesem Rahmen meist als Teil rechtsextremer Ideologien oder als Versatzstück nationalsozialistischer Weltbilder betrachtet und entsprechend (historisch-)empirisch mituntersucht.

Die Ausbildung einer deutschsprachigen Rassismusanalyse ist dagegen wesentlich auf antirassistische, Schwarze und migrantische Netzwerke sowie auf zivilgesellschaftliche Kämpfe zurückzuführen. Diese Auseinandersetzungen mit institutionellen und alltäglichen Formen des Rassismus entstanden primär außerhalb universitärer Strukturen – etwa in der sozialen Arbeit oder politischen Bildungsarbeit – und fanden erst in den letzten Jahren eine breitere wissenschaftliche und staatliche Anerkennung. Diese nachgeholte Institutionalisierung vollzieht sich im Kontext einer wachsenden Bereitschaft, den postkolonialen und postmigrantischen Charakter der deutschen Gesellschaft systematisch zu erforschen.

Verschränkte Analysen von Antisemitismus und Rassismus sind in Deutschland daher bislang nur vereinzelt zu finden. An unterschiedlichen Stellen wurden die konzeptionellen Brüche zwischen beiden Forschungsfeldern beschrieben (vgl. Biskamp, 2021). Erste Publikationen setzen sich inzwischen explizit mit den Verflechtungen von Antisemitismus und antimuslimischem Rassismus auseinander (vgl. Shooman, 2014; Hafez, 2019; Ünal, 2016; Rohde, 2005; Kartika & Saksono, 2018). Diese Arbeiten bilden wichtige Bezugspunkte, da sie verdeutlichen, dass die beiden Ideologien – trotz unterschiedlicher Genesen – gemeinsame gesellschaftliche Funktionen erfüllen: Sie stabilisieren Grenzziehungen zwischen einem imaginierten „Wir“ und den „Anderen“ und strukturieren Zugehörigkeit in der postmigrantischen Gesellschaft (vgl. Arnold & Karakayali, 2025; Fava, 2024).

Aktuelle empirische Studien bestätigen darüber hinaus signifikante Korrelationen zwischen antisemitischen und antimuslimischen Einstellungen (Berghan et al., 2016; Zick, Küpper & Hövermann, 2011). Diese Befunde verweisen auf übergreifende Mechanismen der Ungleichwertigkeit, die auf Angst, Bedrohungswahrnehmung und gesellschaftlicher Hierarchisierung basieren.
Zugleich zeigen sie, dass bestehende Erhebungsinstrumente – die überwiegend in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft entwickelt wurden – die komplexen Verschränkungen beider Phänomene nicht adäquat abbilden. So lassen sich bei bestimmten Items zum sekundären oder israelbezogenen Antisemitismus erhöhte Zustimmungswerte in Gruppen mit Migrationserfahrung beobachten, ohne dass bislang hinreichend verstanden ist, welche sozialen oder kognitiven Mechanismen dabei tatsächlich erfasst werden (vgl. Detzner, 2013; Haury, 2023).

Vor diesem Hintergrund konzentriert sich das Projekt auf die empirische und theoretische Schließung dieser Lücke:

  • Kritische Überprüfung bestehender Messinstrumente zu Antisemitismus und antimuslimischem Rassismus im Hinblick auf ihre theoretische Fundierung, Kontextsensitivität und empirische Tragfähigkeit.

  • Entwicklung neuer, kontextspezifischer Items, die antisemitische Einstellungen und ihre Schnittverhältnisse zu antimuslimischem Rassismus differenziert, nicht additiv erfassen.

  • Verknüpfung von Diskurs- und Erfahrungsebene, um das Verhältnis beider Phänomene relational zu erfassen und empirisch zugänglich zu machen.

Auf diese Weise trägt das Projekt dazu bei, den Nexus Antisemitismus–antimuslimischer Rassismus im deutschen Kontext systematisch zu erschließen und die theoretische wie methodische Grundlage für zukünftige Forschung im Rahmen des NaDiRa-Rassismusmonitors zu stärken.

Das Projekt beschäftigt sich gezielt mit den empirischen, diskursiven und disziplinären Berührungspunkten von Rassismus und Antisemitismus. Es soll erstens den Austausch mit Forschenden ermöglichen und vorantreiben, die beide Phänomene explizit in ihren Verschränkungen und Verbindungen beforschen. Zweitens soll eine Annäherung an konkrete Dynamiken im Spannungsfeld Rassismus-Antisemitismus vor der Folie von Migration in Deutschland erfolgen.

Das Projekt trägt damit dazu bei, anglophone rassismustheoretische Arbeiten mit den europäischen Formen, Praktiken und Nachwirkungen nationalsozialistischer und rassistischer Vernichtungs- und Imperialideologie in Beziehung zu setzen. Der Schwerpunkt der theoretischen Beschäftigungen im NaDiRa wird somit von einer Übertragung rassismustheoretischer Konzepte aus dem US-amerikanischen Raum verschoben auf das Ausloten eine Theoriebildung, die aus den empirisch-historischen Kontexten Deutschlands heraus an einer Neukonturierung rassismustheoretischer Konzepte ausgerichtet ist.

Das Projekt verfolgt ein mehrstufiges Forschungsdesign, das theoretische und empirische Zugänge miteinander verbindet. Im Zentrum steht die Verknüpfung von Diskurs- und Erfahrungsperspektiven, um den Nexus zwischen Antisemitismus und antimuslimischem Rassismus aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Positionen heraus zu analysieren.

Zunächst erfolgt eine systematische Aufarbeitung theoretischer und empirischer Ansätze zum Verhältnis beider Phänomene im deutschen Kontext. Darauf aufbauend werden Expert:inneninterviews mit Vertreter:innen aus Wissenschaft, Praxis und Medien durchgeführt, um aktuelle Diskurslogiken, Begriffsverständnisse und Spannungsfelder zu erfassen. Ergänzend werden qualitative Fokusgruppen mit Betroffenen antisemitischer und antimuslimischer Diskriminierung realisiert, um die Erfahrungsdimensionen dieser Phänomene sichtbar zu machen und ihre wechselseitigen Bezüge zu rekonstruieren.

Die gewonnenen Erkenntnisse werden anschließend gemeinsam mit dem NaDiRa ItemLab in einem Co-Design-Prozess in neue, kontextsensible Messinstrumente überführt. Durch diese Verbindung von theoretischer Reflexion, empirischer Analyse und partizipativer Entwicklung entsteht eine Grundlage, um die komplexen Verflechtungen von Antisemitismus und antimuslimischem Rassismus im Rahmen zukünftiger Erhebungen des Rassismusmonitors systematisch zu erfassen.

Das Projekt läuft von Anfang Januar bis Ende Dezember 2025.

Das Teilprojekt ist am DeZIM-Institut im Rahmen des Nationalen Diskriminierungs- und Rassismusmonitors (NaDiRa) angesiedelt und arbeitet interdisziplinär mit Wissenschaftler:innen, Praxisakteur:innen und Community-Vertreter:innen zusammen.

Ansprechpartner*innen

Neta-Paulina Wagner

Wissenschaftliche Mitarbeiterin Nationaler Diskriminierungs- und Rassismusmonitor

Ausgewählte Literatur

  • Biskamp, Floris (2021): Ich sehe was, was Du nicht siehst. Antisemitismuskritik und Rassismuskritik im Streit um Israel (Zur Diskussion). In: PERIPHERIE – Politik • Ökonomie • Kultur 40 (159-160), S. 426–440.
  • Danilina, Anna (2023): Ethiken der Essenz. Eine Emotions- und Körpergeschichte der Rasse in Inneren Kolonien (1890-1933). Göttingen: Wallstein.
  • Hafez, Farid (2019): Public and Scholarly Debates on the Comparison of Islamophobia and Anti-Semitism in Germany. In: Kirchliche Zeitgeschichte 32 (2), S. 277–290.
  • Herms, Jonas Friedemann (2019): Gesellschaftskritik aber wie? - Kritische und Postkoloniale Theorie im Dialog. In: LaG Magazin, 27.11.2019.
  • Kartika, Ajeng Dianing; Saksono, Lutfi (2018): Contrastive Analysis on Discourse Strategies News about Islamophobic (Islamfeindlichkeit) and Antisemitism (Judenfeindlichkeit) in German Online Newspaper. In: Proceedings of the 2nd Social Sciences, Humanities and Education Conference: Establishing Identities through Language, Culture, and Education (SOSHEC 2018). Paris, France: Atlantis Press.
  • Rohde, Achim (2005): Der Innere Orient. Orientalismus, Antisemitismus und Geschlecht im Deutschland des 18. bis 20. Jahrhunderts. In: Welt Islams 45 (3), S. 370–411.
  • Rothberg, Michael (2009): Multidirectional Memory. Remembering the Holocaust in the Age of Decolonization. Palo Alto: Stanford University Press.
  • Schüler-Springorum, Stefanie (2020): Missing Links. Religion, Rassismus, Judenfeindschaft. In: Stefanie Schüler-Springorum (Hg.): Jahrbuch für Antisemitismusforschung. Berlin: Metropol Verlag (29), S. 187–206.
  • Shooman, Yasemin (Hg.) (2014): „… weil ihre Kultur so ist“. Narrative des antimuslimischen Rassismus. Bielefeld: transcript.
  • Ünal, Fatih (2016): Islamophobia & Anti-Semitism: Comparing the Social Psychological Underpinnings of Anti-Semitic and Anti-Muslim Beliefs in Contemporary Germany. In: Islamophobia Studies Journal 3 (2), S. 36–55