Theoretische Perspektiven auf die Schnittstellen von Rassismus und Antisemitismus in der postmigrantischen Gesellschaft

Für eine erkenntnistheoretische Anschlussfähigkeit des Rassismusmonitors an die internationale Forschung bedarf es einer theoretischen Grundlagenarbeit zum Verhältnis unterschiedlicher Varianten des Rassismus zueinander sowie dieser zum Antisemitismus. Anti-Schwarzer Rassismus, antimuslimischer Rassismus, antiasiatischer Rassismus, antislawischer Rassismus, Antiziganismus und Antisemitismus sind mit je eigenen Bildern und Praktiken verbunden, die aus spezifischen historisch-geographischen Kontexten erwachsen sind. Zuweilen überkreuz(t)en sich diese Prozesse jedoch oder waren bzw. sind miteinander verflochten. Das Projekt nähert sich speziell den Schnittstellen von Antisemitismus und antislawischem Rassismus sowie antimuslimischem Rassismus auf theoretischer Ebene. Anhand konzeptioneller Auseinandersetzungen sollen theoretische Zugänge der Rassismus- und Antisemitismusforschung mit Blick auf die Kategorie „Weißsein“ sowie auf die Beziehung zwischen „Rasse“, „Religion“ und „Migration“ genauer für den deutschen Kontext konturiert werden. Entsprechende Erkenntnisse werde zukünftig in die empirische Erforschung der rassistischen Realitäten der deutschen Gegenwart einfließen.

Leitende Forschungsfragen

  • Wie sind theoretische Konzepte der Rassismus- und der Antisemitismusforschung vor dem Hintergrund des europäischen Kolonialismus, der nationalsozialistischen Gewaltgeschichte sowie der postmigrantischen Gesellschaftsstruktur für die Analyse rassistischer Dynamiken in Deutschland nachzuschärfen?
  • Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für eine qualitativ-theoretisch fundierte, repräsentative Erforschung von Rassismus und Antisemitismus in Deutschland?
  • Wie bedingen sich Rassismus und Antisemitismus wechselseitig und traten bzw. treten in Verschränkung auf?
  • Wie hängen Rassismus, Migration und Antisemitismus zusammen?

„Eine differenzierte Erforschung von Rassismus in Deutschland bedarf theoretischer Grundlagenarbeit. Eine solche Arbeit hat sich an internationaler Forschung zu orientieren, muss aber dennoch daran ausgerichtet sein, die spezifischen Kontexte in Deutschland und Europa zu erfassen. Dem Verhältnis zwischen diversen Varianten des Rassismus und Antisemitismus kommt hierbei ein besonderes Gewicht zu.“ 

Patricia Piberger, Wissenschaftliche Mitarbeiterin Nationaler Diskriminierungs- und Rassismusmonitor

Projektbeschreibung

Das Forschungsprojekt befasst sich mit den Überschneidungen, aber auch Unterschieden der Rassismus- und Antisemitismusforschung. Diese beiden Forschungsbereiche sind aus verschiedenen historischen Kontexten erwachsen und zugleich durch diese miteinander verbunden. Vor dem Hintergrund einer disziplinären Trennung geht es in dem Teilprojekt primär darum, diese Forschungsfelder mit Hilfe theoretischer Perspektiven zueinander in Bezug zu setzen. Ziel ist es daher, Leerstellen aber auch gegenseitige Bezugnahmen herauszuarbeiten und damit das Verhältnis von Rassismus und Antisemitismus genauer zu bestimmen. Dies ist besonders relevant angesichts öffentlicher und politischer Diskurse, die häufig dazu führen, dass die beiden Phänomene in eine konkurrierende Beziehung gebracht werden. 

Während es in der internationalen Forschung eine längere Tradition des gemeinsamen Beforschens von Rassismus bzw. verschiedenen Rassismen und Antisemitismus gibt (vgl. etwa Rothberg 2009), bleiben diese beiden Forschungsrichtungen in Deutschland bislang weitestgehend getrennt. Dies hängt u.a. damit zusammen, wie sich diese Felder vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte herausgebildet haben. Beide entspringen sozialen Bewegungen, die etwa zeitgleich ihren Ausgang fanden, sich jedoch zu sehr unterschiedlichen Zeitpunkten institutionalisierten.

Speziell seit den 1990er Jahren hatte sich innerhalb Deutschlands auch auf staatlicher Ebene eine hohe Sensibilität für den eigenen postnazistischen Charakter herausgebildet. In enger Verschränkung mit der Forschung zur Geschichte und Nachgeschichte des Holocaust erwuchs und institutionalisierte sich in Deutschland demnach zuerst eine Analyse des Antisemitismus sowie der diversen Erscheinungsformen von Rechtsextremismus und Rechtsradikalismus. Rassismus tauchte dabei lediglich insofern auf, als dass er als ein Versatzstück nationalsozialistischer und rechtsextremer Ideologie und Praxis verstanden und zuweilen (historisch-)empirisch mit erforscht wurde.

Die Ausbildung einer deutschsprachigen Rassismusanalyse ist zurückzuführen auf sowohl anti-rassistische, Schwarze sowie migrantische Netzwerke und Kämpfe als auch auf eine kritische Beschäftigung mit alltäglichen und institutionellen Formen des Rassismus in deutschen Immigrationsdebatten und -politiken, die eher aus dem Feld der sozialen und Beratungsarbeit entstammte. Im Unterschied zur Antisemitismusforschung fand die Institutionalisierung dieser Wissensproduktionen jedoch ausschließlich im zivilgesellschaftlichen Bereich über die Gründung diverser Vereine und Initiativen statt. Eine nachgeholte universitäre Institutionalisierung ist erst gegenwärtig zu beobachten. Diese entfaltet sich auch vor dem Hintergrund einer noch recht jungen Bereitschaft von staatlicher Seite, sich intensiver mit dem eigenen postkolonialen und postmigrantischen Charakter und diversen Formen des Rassismus und rassistischer Gewalt zu beschäftigen.

Verschränkte Analysen von Rassismus und Antisemitismus sind in Deutschland daher bisher nur vereinzelt vorzufinden. An unterschiedlichen Stellen wurden die Differenzen und konzeptionellen Brüche zwischen den beiden Forschungsfeldern beschrieben (vgl. etwa Biskamp 2021). Ebenso liegen erste Publikationen vor, die über die Verschränkungen speziell von Antisemitismus und antimuslimischem Rassismus nachdenken (vgl. etwa Shooman 2014; Hafez 2019; Ünal 2016; Rohde 2005; Kartika/Saksono 2018). Als Orientierung für das Teilprojekt dienen zugleich unterschiedliche Studien, die sich dem Verhältnis Rassismus – Antisemitismus annähern. Neben ersten theoretischen Beiträgen (vgl. Herms 2019) lassen sich hierzu vor allem historische Untersuchungen finden (vgl. Schüler-Springorum 2020; Danilina 2023). Das Projekt knüpft an solchen Stellen an und konzentriert sich darauf, eine entsprechende Wissensproduktionen für den deutschen Kontext zu vertiefen.

Das Projekt beschäftigt sich gezielt mit den empirischen, diskursiven und disziplinären Berührungspunkten von Rassismus und Antisemitismus. Es soll erstens den Austausch mit Forschenden ermöglichen und vorantreiben, die beide Phänomene explizit in ihren Verschränkungen und Verbindungen beforschen. Zweitens soll eine Annäherung an konkrete Dynamiken im Spannungsfeld Rassismus-Antisemitismus vor der Folie von Migration in Deutschland erfolgen.

Das Projekt trägt damit dazu bei, anglophone rassismustheoretische Arbeiten mit den europäischen Formen, Praktiken und Nachwirkungen nationalsozialistischer und rassistischer Vernichtungs- und Imperialideologie in Beziehung zu setzen. Der Schwerpunkt der theoretischen Beschäftigungen im NaDiRa wird somit von einer Übertragung rassismustheoretischer Konzepte aus dem US-amerikanischen Raum verschoben auf das Ausloten eine Theoriebildung, die aus den empirisch-historischen Kontexten Deutschlands heraus an einer Neukonturierung rassismustheoretischer Konzepte ausgerichtet ist.

Die explorative Ausrichtung des Projekts wird mithilfe einer internen, akademischen Workshopreihe umgesetzt. Im Zuge dieser Reihe sollen die aufgeworfenen Fragestellungen zum Verhältnis von Rassismus und Antisemitismus kritisch diskutiert werden. Ein solcher Raum dient im Besonderen dazu, die theoretischen Perspektiven in den Feldern der Rassismus- sowie der Antisemitismusforschung in Austausch zu bringen und diese unter Bezug auf historische sowie zeitgenössische Beispiele aus der Empirie einzuordnen, um dabei Gemeinsamkeiten und Unterschiede herauszuarbeiten. Diese interdisziplinären Beschäftigungen zielen auf eine wechselseitige Befruchtung ab.

Das Projekt läuft von Anfang Januar bis Ende Dezember 2024.

Ansprechpartner*innen

Patricia Piberger,

Wissenschaftliche Mitarbeiterin Nationaler Diskriminierungs- und Rassismusmonitor

Ausgewählte Literatur

  • Biskamp, Floris (2021): Ich sehe was, was Du nicht siehst. Antisemitismuskritik und Rassismuskritik im Streit um Israel (Zur Diskussion). In: PERIPHERIE – Politik • Ökonomie • Kultur 40 (159-160), S. 426–440.
  • Danilina, Anna (2023): Ethiken der Essenz. Eine Emotions- und Körpergeschichte der Rasse in Inneren Kolonien (1890-1933). Göttingen: Wallstein.
  • Hafez, Farid (2019): Public and Scholarly Debates on the Comparison of Islamophobia and Anti-Semitism in Germany. In: Kirchliche Zeitgeschichte 32 (2), S. 277–290.
  • Herms, Jonas Friedemann (2019): Gesellschaftskritik aber wie? - Kritische und Postkoloniale Theorie im Dialog. In: LaG Magazin, 27.11.2019.
  • Kartika, Ajeng Dianing; Saksono, Lutfi (2018): Contrastive Analysis on Discourse Strategies News about Islamophobic (Islamfeindlichkeit) and Antisemitism (Judenfeindlichkeit) in German Online Newspaper. In: Proceedings of the 2nd Social Sciences, Humanities and Education Conference: Establishing Identities through Language, Culture, and Education (SOSHEC 2018). Paris, France: Atlantis Press.
  • Rohde, Achim (2005): Der Innere Orient. Orientalismus, Antisemitismus und Geschlecht im Deutschland des 18. bis 20. Jahrhunderts. In: Welt Islams 45 (3), S. 370–411.
  • Rothberg, Michael (2009): Multidirectional Memory. Remembering the Holocaust in the Age of Decolonization. Palo Alto: Stanford University Press.
  • Schüler-Springorum, Stefanie (2020): Missing Links. Religion, Rassismus, Judenfeindschaft. In: Stefanie Schüler-Springorum (Hg.): Jahrbuch für Antisemitismusforschung. Berlin: Metropol Verlag (29), S. 187–206.
  • Shooman, Yasemin (Hg.) (2014): „… weil ihre Kultur so ist“. Narrative des antimuslimischen Rassismus. Bielefeld: transcript.
  • Ünal, Fatih (2016): Islamophobia & Anti-Semitism: Comparing the Social Psychological Underpinnings of Anti-Semitic and Anti-Muslim Beliefs in Contemporary Germany. In: Islamophobia Studies Journal 3 (2), S. 36–55